Jetzt heißt es Abschied nehmen

...
Tag 6, 22.06.2011
Start: 06:00 Uhr, Schutzhütte am Wegrand, Ecklingerrode, Nähe Duderstadt
Mittagspause: 10:00 Uhr, Supermarkt in Arenshausen, Eichsfeld, 45 km
Ende: 17:00 Uhr, Waldweg hinter Asbach-Sickenberg, Nähe Bad Soden-Allendorf, Werra
Strecke: 70 km
So langsam muss ich mich sputen. Mir bleiben nur noch vier Tage bis zum Ziel in Eichigt, und laut GPS liegen bis dahin noch 580 km vor mir. Das sind pro Tag durchschnittlich 145 km. Im Flachland, bevor es in den Harz ging, passte das noch relativ gut, aber gestern bin ich „nur“ 100 km weit gekommen. Dabei trete ich pro Tag gut und gerne 10 Stunden in die Pedale. Mit Pausen bin ich rund 12 bis 13 Stunden unterwegs. Heute muss ich also richtig ranklotzen. Zum Glück hilft mir die Natur diesmal, meine Aufstehzeit dem allgemeinen Trend anzupassen. Wie schon auf dem Campingplatz an der Elbe werde ich um kurz nach 04:00 Uhr von den Vögeln geweckt. Die Ziegen nebenan haben schon mit dem Frühstück begonnen. Gestern Abend habe ich alle Sachen bereits geordnet und verpackt, so dass ich ohne größeren Zeitverlust mein kleines Müslifrühstück einnehmen und wieder losfahren kann. Es ist noch ein wenig frisch, so dass ich mir die Regenjacke überziehe. Da die Wasserflasche leer ist, fahre ich den kurzen Weg zurück ins Dorf, und fülle sie an dem außen am Pfarrhaus angebrachten Hahn wieder auf. Die Menschen im Dorf schlafen noch. Punkt 06:00 Uhr bin ich wieder an meiner Hütte und bewege mich auf dem Track in Richtung Ziel. So wie die Strecke gestern aufhörte, geht sie heute Morgen weiter. Der Track führt mich am Vormittag zunächst in westlicher Richtung am Rand des Eichsfelds entlang, einer Gegend, die sich zwischen Harz und Werra erstreckt. Es geht viel auf und ab, mal auf dem Kolonnenweg, dann wieder auf kleinen asphaltierten Wirtschaftswegen. Ab und zu geht es auch wieder durch die steilen Bodensenken. Einmal wird es dabei bergab so steil, dass mein Hinterrad blockiert. Längst bin ich mit meinem Hinterteil hinter den Sattel gerutscht, die arme lang nach vorne gestreckt, um soviel Gewicht wie möglich auf die Hinterachse zu bringen. Es nützt nichts. Hilflos muss ich zusehen, wie ich samt Rad Tempo aufnehme und auf den Lochplatten in die Tiefe rausche. Für ein kontrolliertes Absteigen ist es bereits zu spät. Mein Adrenalinspiegel steigt rapide. Jetzt geht es auch noch um die Kurve! Durch geschickte Gewichtsverlagerung gelingt mir der Richtungswechsel. Mein Rad steuere ich wie einen wilden Gaul durch Schenkeldruck gegen die Sattelflanken. Das Manöver gelingt. Mit driftendem Hinterrad meistere ich die brisante Situation. Ich bin heilfroh, als ich im Auslauf der Gefällestrecke endlich die Bremsen lösen kann und am Gegenhang ausrolle. Das ist gerade nochmal gut gegangen. Einige der Fahrer haben in solchen Situationen weniger Glück gehabt und sind gestürzt, wie ich später aus den Telefonberichten erfahre. Gegen halb zehn überquere ich die A38, die hier durch einen längeren Tunnel führt. Am Ausgang läuft der Weg entlang einer Anhöhe parallel zur Autobahn, so dass ich die Lkw-Fahrer in ihren Kabinen sehen kann. Trotz der schwierigen Topographie komme ich einigermaßen gut voran. Kurz hinter der Autobahnüberquerung liegt der Ort Kirchgandern, um zehn Uhr gerade richtig für eine Frühstückspause und zur Auffrischung meiner Vorräte. Leider hat der letzte von zwei Bäckern vor einem Jahr aufgeben müssen, wie mir vier ältere Frauen lebhaft gestikulierend und durcheinander redend zu erklären versuchen. „Aber dort drüben, in Ahrenshausen, da müssen Sie über die Brücke fahren und dann rechts und die nächste wieder links, nein, also die zweite, da steht ein Schild, das sehen Sie dann schon,…“ Ich bedanke mich schnell und fahre zurück auf den Track, der ohnehin an Ahrenshausen vorbeiführt. Keine zehn Minuten später stehe ich in einem kleinen Supermarkt, der all die Dinge bereit hält, die jetzt für mich wichtig sind. Um Zeit zu sparen, esse ich mein zweites Frühstück direkt auf dem Mäuerchen neben dem Aufgang. Ein Alkoholiker zwingt mir ein Gespräch auf. Ich überlege kurz, ob ich woanders hinfahren soll, aber er ist eigentlich ganz nett und erzählt mir von seiner Vergangenheit. Inhaftierung in der DDR, später mal im Westen, mal im Osten gewohnt. Keine Arbeit, jetzt wohnt er hier mit seinem Bruder zusammen. Er deutet auf die umliegenden Häuser. „Alles Wendehälse!“ Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Er ist verbittert. Warum ich diese Tour entlang der Grenze mache, will er wissen. Ob ich Geld dafür bekomme, oder wenigstens eine Medaille. Er wünscht mir Glück, als ich mich von ihm verabschiede. Mit aufgefüllten Vorräten und voller Wasserflasche mache ich mich wieder auf den beschwerlichen Weg. Nach einem kurzen Stück Landstraße geht es wieder auf den Kolonnenweg. Die Sonne steht bereits hoch am milchig blauen Himmel und es wird langsam schwül-warm. Ich fühle mich leicht unausgeschlafen. Das frühe Aufstehen bekommt mir nicht, jedenfalls nicht bei dieser Schinderei. Manche Hügel sind fahrbar, manchmal muss ich schieben, teilweise leider auch bergab. Ging es bis zur Pause noch gut voran, so werde ich jetzt von Kilometer zu Kilometer immer langsamer. Sobald ich stehen bleibe, werde ich von Schnaken attackiert. Nach einer kurzen Gefällestrecke, die ich im Sattel zurücklegen kann, fühlt sich mein Hinterrad plötzlich schwammig an. Beim Absteigen am Gegenhang bestätigt sich mein Verdacht. Platten! Und das in der prallen Mittagssonne. Der Schweiß brennt mir in den Augen. Ich legen das Rad auf die Seite und würge das Hinterrad aus den Ausfallenden. So spare ich mir das Verstellen meiner GPS-Konstruktion. Die Kettenschmiere an meinen Händen ist mir egal. Apathisch wechsle ich den Schlauch und erdulde das Stechen der Schnaken. Ich kann mich ohnehin nicht gegen sie wehren. Erstaunlich wie der Geist sich den veränderten Randbedingungen anpasst. Mit prall gefülltem Reifen schiebe ich den Rest des Steilhanges hinauf. Wenn wenigstens mal wieder ein schön zu fahrender Feldweg käme. Aber der Track kennt keine Gnade. Um 13:30 Uhr stehe ich auf einem Plateau, knapp 250 m oberhalb der Werra. Jetzt müsste der schwierigste Teil für heute vermutlich geschafft sein, denke ich, und freue mich schon auf den gut fahrbaren Werratalradweg. Aber vorher biegt der Kolonnenweg um neunzig Grad nach links ab und verläuft senkrecht zu den eng nebeneinanderliegenden Höhenlinien in die Tiefe, von Dornengestrüpp überwuchert. Ich habe ehrlich gesagt keine Lust mehr auf diese Tortur. Außerdem habe ich gerademal 56 km für heute geschafft. Also beschließe ich eine alternative Route auf einem Wanderweg durch den Wald zu nehmen. Der ist aber auch nicht viel besser. Auf steilen Sandwegen, teilweise von liegengebliebenen Ästen der Waldarbeiter übersät, rutsche ich mühsam talwärts. Nach zehn Minuten ist es geschafft. Ich bin unten an der Werra angekommen und rolle auf dem kleinen Asphaltsträßchen neben dem Flussbett aus. Meine Kehle ist trocken, ich bin total verschwitzt. Da kommt mir die Gastronomie am Wegrand gerade recht. Der Wirt preist mir seinen selbstgepressten Rhabarbersaft an. Ich bestelle gleich einen halben Liter. Ah, wie das schmeckt. „Na, noch einen?“, scheint der Wirt meine Situation gleich erkannt zu haben. Ich nicke erschöpft. Auch der zweite halbe ist in wenigen Sekunden hinunter gespült. Perlen vor die Säue. Ich erzähle ihm von der Grenzsteintrophy. Auch er ist, wie viele, von unserer Tour begeistert und holt ein altes ausgeblichenes Foto hinter Glas aus dem Schankraum, auf dem die Grenzschneise wie eine klaffende Wunde den Wald oberhalb Lindewerra zerteilt. „So hat das hier damals ausgesehen. Schlimm war das!“. In seinem Sanitärraum wasche ich mir noch den Schweiß vom Gesicht, und nach einem kurzen Studium der Karte starte ich einen letzten verzweifelten Anlauf, um das Blatt noch einmal zu wenden. Es ist 14:40 Uhr, als ich mich beim Kilometerstand von 60 km wieder auf den Weg mache. Seit fast neun Stunden bin ich schon unterwegs, und noch nicht einmal die Hälfte meiner angepeilten Tagesstrecke ist geschafft. Außerdem weiß ich jetzt, dass der Track natürlich nicht entlang des schönen Werratalradweges weitergeht, sondern jede Erhebung seitlich der Werra parat hält. Dunkle Regenwolken ziehen inzwischen ins Tal. Es ist unerträglich schwül. In Altenburschla ist ein Campingplatz. Den könnte ich mit viel Glück heute noch erreichen. Aber das wären dann auch nur 100 km für heute. Aber ich will nicht gleich aufgeben. Auf dem Weg zur nächsten Anhöhe sehe ich plötzlich einen Mountainbiker, der mir entgegenkommt. Schon von weitem kann ich an seinem Bündel unter dem Lenker erkennen, dass es sich um einen GST-Teilnehmer handeln muss. Wer sonst bindet in diesem Land sein Zelt allen Ernstes unter den Lenker? Es ist Ralph. Seine Freundin Antje musste schon am zweiten Tag wegen Schmerzen in der Schulter aufgeben. Die Folge eines Sturzes bereits vor dem Start der GST. Er fragt mich, ob ich auch vorhin am Grenzdenkmal bei Sickenberg vorbeigekommen bin. Große Verunsicherung bei ihm, als ich ihm meinen Track auf dem GPS zeige. Sein Gerät kann immer nur einen Teil des Gesamttracks in den Speicher laden. Irgendwie scheint er beim Übergang von einem Teilstück zum nächsten die Orientierung verloren zu haben. Auf meinem Track liegt das Grenzmuseum jedenfalls definitiv noch vor mir. Wir verabschieden uns wieder, da er noch einkaufen will. Vor ihm sollen noch weitere Fahrer auf der Strecke sein. Als ich auf den Feldweg zum Grenzmuseum steil in den Hang einbiege, grollt in der Ferne bereits der erste Donner. Ich beeile mich so gut es geht. Lasse das Museum links liegen und fahre weiter durch ein paar kleine Dörfer. Schon regnet es. Ich ziehe mir alle Regensachen über, auch wenn ich darunter höllisch schwitze. Als die ersten Blitze zucken, halte ich am Waldrand an und stelle mich unter dem dichten Blätterdach der Buchen unter. Weiterfahren wird mir doch zu mulmig. Es ist 16:00 Uhr. Nach einer Stunde zieht das Gewitter langsam weiter. Ich überlege kurz. Wenn ich weiterfahre, hole ich das Gewitter wieder ein. Es hängt noch in den Berghängen vor mir, genau in Richtung meines Weges. Mein Tacho zeigt 70 km an. Ich bin erschöpft. Irgendwie ist mir die Lust an der Tour für heute und auch insgesamt vergangen. Außerdem habe ich Hunger. Unten im Tal liegt das schöne Bad Soden-Allendorf. Dort werde ich mir ein festes Dach über dem Kopf suchen und mich von den Strapazen erholen. Ich weiß instinktiv, dass das das Ende der Grenzsteintrophy für mich bedeutet. Und ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ohne zu treten rolle ich das kleine Bergsträßchen zurück ins Tal. Schon von weitem kann ich die schmucken Fachwerkhäuser sehen. Auf dem Weg zur Touristeninformation komme ich an einem Gradierwerk vorbei. Dort wird Sole durch Meterhohe Reisigbündel geleitet und durch Verdunstung aufkonzentriert. Die Luft in dem umgebenden Rundgang ist stark salzhaltig und wird von den Kurgästen inhaliert, die dort flanieren um ihre Beschwerden zu lindern. Ein liebevoll restauriertes Radlerhotel hat noch ein schmuckes Zimmer für mich. Frisch gestrichener Dielenboden, nach Edelholz duftende Möbelstücke. Und das zu einem unglaublich niedrigen Preis. An der Autobahn in Helmstedt war es deutlich teurer. Ich dusche mir den Scheiß vom Körper und wasche alle Sachen durch. Eine leckere Pizza und die üblichen zwei Hefeweizen lassen die Strapazen der vergangenen Woche aus meinem Körper entweichen. Morgen früh werde ich ausschlafen und nach einem ausgiebigen und in Ruhe genossenen Frühstück auf den Werratalradweg abbiegen und mich einreihen in das Heer der Elektrofahrräder und Dreifachpacktaschenreiseradler. Wie schön kann doch eine Fahrradtour sein!
Vielleicht war mein Entschluss zu voreilig, am Waldrand kurz hinter Asbach-Sickenberg aufzugeben. Aber die Aussicht, mich in ähnlicher Landschaft noch weitere drei Tage auf dem Kolonnenweg weiter zu quälen, hat mir am Ende die Motivation genommen. Vielleicht wäre ich bis auf 100 km an das Dreiländereck heran gekommen. Aber knapp gescheitert ist auch nicht besser, als vorher aufzugeben. Klar, ich hätte noch ein oder zwei Tage Urlaub dranhängen können, aber das war es mir nicht wert. Ich habe bis hierher eine super Tour gehabt, mit allen Höhen und Tiefen. Sechs Tage Radmarathon am Stück haben mir viel abverlangt. Die Stille und die Einsamkeit auf einem grotesken Weg entlang einer nicht mehr existierenden Grenze und eine unberührte Natur haben einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Eine wahrhaftige Grenzerfahrung, wie es einer der Teilnehmer so treffend in seinem Telefonbericht ausgedrückt hat. Der Weg war das Ziel.
Carsten