Grenzsteintrophy

Tourenankündigungen, Termine und Berichte in und um Kiel. (Mountainbike/MTB und Rennrad)

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Jensemann » Di 5. Jul 2011, 06:53

:roll: tschuldigung,meine Schuld,habe Carsten gestern Abend angerufen,da hatte er gerade angefangen die nächste Gutenachtgeschichte zu schreiben und als wir das Telefonat beendet hatten,war es schon 23.00 und Carsten mußte ins Bett. :(

Jens
Benutzeravatar
Jensemann
FullyFee
 
Beiträge: 966
Registriert: Do 3. Dez 2009, 07:43
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Carsten » Di 5. Jul 2011, 19:00

Oh Mann, ich bin ganz gerührt, Ihr Lieben :oops:

Ein bisschen müst Ihr Euch aber noch gedulden, dann gibt es die nächste Gute-Nacht-Geschichte vom Erzählonkel :wink: Kommt nicht gerade eine Tageszusammenfassung der Tour de France im Fernsehen? Das wäre ja bis dahin eine gute Ablenkung...

Bis glei-h-eich,
Carsten
Carsten
 
Beiträge: 157
Registriert: Sa 30. Jan 2010, 19:32
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Jensemann » Di 5. Jul 2011, 19:55

und ich werde Carsten auch erst wieder anrufen,wenn er alle Berichte online hat :)

Jens
Benutzeravatar
Jensemann
FullyFee
 
Beiträge: 966
Registriert: Do 3. Dez 2009, 07:43
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Carsten » Di 5. Jul 2011, 20:43

@Karsten:
Keine Angst, ich habe noch kein Alzheimer :wink: . Nein, im Ernst, die Tour war wirklich klasse, das hat sich in meinem Gedächtnis richtig eingebrannt.

So, nun aber, damit heute Abend alle gut einschlafen können:

Tag 4, 20.06.2011
Start: 09:40 Uhr, Hotel in Helmstedt, Lappwald
Mittagspause: 15:00 Uhr, Hornburg, Großer Fallstein, Supermarkt, Brunnenpaltz, 65 km
Ende: 21:30 Uhr, Zimmer in Schierke, Harz
Strecke: 120 km
Lautes Telefongeklingel reißt mich aus dem Tiefschlaf. Ich weiß zunächst gar nicht wo ich bin, muss mich erst Mal sammeln. „Guten Morgen! Sie wollten um 07:00 Uhr frühstücken, es ist jetzt 07:15 Uhr.“ Ach Du Sch…, jetzt habe ich auch noch verschlafen. Wie peinlich, ich bin nämlich der einzige Gast, der so früh schon seine erste Mahlzeit einnehmen will. Die Wirtin ist extra meinetwegen früher aufgestanden. In meinem Zimmer sieht es aus wie nach einem Bombenanschlag. Mein gesamtes Equipment liegt auf dem Boden ausgebreitet, Trikots und Hosen trocknen auf Bügeln am offenen Fenster. Dabei wollte ich vor dem Frühstück schon alles gepackt haben. Aber es nützt nichts, mein Körper hat sich das geholt, was er gebraucht hat. Die letzten drei Tage haben ihren Tribut gefordert. Leider ist das Frühstück zu reichhaltig und zu lecker, um es hastig hinunter zu schlingen. Und mein Kreislauf kommt auch nur ganz langsam in Schwung, benebelt nippe ich an meiner Tasse Kaffee. So kommt es, dass ich mich erst um 09:40 Uhr in den Sattel schwinge und die rund 150 Höhenmeter zurück auf den Kolonnenweg kurble. Ein kleines Schwächeln, mit großen Folgen für den weiteren Tourverlauf. Zumindest das Wetter hat sich deutlich gebessert, weiße Schäfchenwolken am blauen Himmel. Dafür bläst nach wie vor ein kräftiger Wind aus West Süd-West. Im Lappwald ist davon noch nichts zu spüren. In leichtem auf und ab geht es über die hier gut befahrbaren Lochbetonplatten weiter entlang der ehemaligen Grenze. Am Südrand des Höhenrückens überquert der Track die A2 in unmittelbarer Nähe des ehemaligen Grenzübergangs Helmstedt-Marienborn, einst das Nadelöhr zwischen Ost und West, wo – so steht es im Infoblättchen, dass mir die nette Hotelinhaberin in die Hand gedrückt hat – rund 1000 Menschen arbeiteten und zwölf Lichtmasten mit je 8000 Watt elektrischer Leistung das Gelände schattenfrei ausleuchteten. Seit 1996 befindet sich hier die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn. Ich überlege kurz, ob ich einen Abstecher dorthin unternehmen soll, entschließe mich dann aber auf Grund der fortgeschrittenen Zeit zur Weiterfahrt. Erinnerungen an die Berlin-Klassenfahrt in der neunten Schulklasse werden wach. Angespanntes Warten im Reisebus, penible Passkontrolle, uniformierte Grenzer. Ein paar Kilometer weiter folgt das Grenzdenkmal Hötensleben, die Außenstelle der Gedenkstätte. Hier sind auf einer Länge von 350 m die Grenzanlagen im Originalzustand erhalten: Kolonnenweg, Spurensicherungsstreifen, KFZ-Sperrgraben und Grenzmauer. Das Ganze abgesichert durch einen unter Niederspannung stehenden Signalzaun im Hinterland, der bei Berührung oder Durchtrennung einen stillen Alarm auslöste. Zwei Grenzbeobachtungstürme stehen in strategisch günstiger Anordnung. Wer hier raus wollte, hatte keine Chance. Zudem wurden 80 Prozent aller Fluchtversuche bereits vorher durch Spitzel vereitelt, informiert eine Tafel. Ich schiebe mein Rad durch die Gedenkstätte und lese mir einige der Informationstafeln durch. Ein beklemmendes Gefühl. Kaum zu glauben, dass es das vor 22 Jahren noch gegeben hat. Mit der gleichen Perfektion, wie man sie aufgebaut hat, wurde die Grenze nach 1990 auch wieder abgebaut. Bis auf diese Gedenkstätten ist von dem ehemaligen Todesstreifen nicht mehr viel zu sehen. Allein der Kolonnenweg ist an vielen Stellen noch erhalten und wird teilweise als Wirtschaftsweg genutzt oder ist als Wanderweg ausgeschildert, eingefasst vom sogenannten Grünen Band, einem breiten Naturschutzstreifen. Es wird Zeit weiter zu fahren. Etwas weiter südlich biegt der Kolonnenweg in westliche Richtung ab. Hier sind die Platten nicht gelocht, lediglich die Transportösen liegen in Vertiefungen, die man aber gut umfahren kann. Dafür bläst mir der Wind jetzt kräftig entgegen. Es geht durch den Großen Bruch um den Großen Fallstein herum, einen knapp 300 Meter hohen Berg. Dahinter thront in Richtung Süden, am Horizont bereits sichtbar, der Harz mit dem Brocken. Leider geht es nicht direkt darauf zu sondern in einer großen Schleife zunächst west- und später wieder ostwärts. Am Scheitelpunkt dieser Schleife liegt der Ort Hornburg, den ich für die Mittagspause ansteuere. Der mittelalterliche Dorfkern schlummert um kurz vor drei noch im Mittagsschlaf, so dass ich einen Supermarkt außerhalb aufsuche, um mich mit der schon bewährten Kombination aus Brötchen, Aufschnitt u. dgl. einzudecken. Gut 65 km sind geschafft, und nach der anstrengenden Gegenwindpassage brauche ich eine längere Rast. Im Dorfkern ist es gemütlicher und ruhiger als vor den Toren des Supermarkts, und so sitze ich für ein gutes halbes Stündchen neben dem Dorfbrunnen auf einer Bank und genieße die Sonne. Ein kurzer Blick auf die Karte zeigt mir, dass ich nur noch 20 km vom Einstieg in den Harz entfernt bin. Während der Vorbereitung in den Tagen vor der Grenzsteintrophy bin ich gedanklich nie so weit gekommen, so dass ich keinen Plan habe, wo ich heute ungefähr übernachten werde. Vielleicht eine Schutzhütte im Wald? Auf dem Weg nach Stapelburg, dem Einstieg ins Eckertal, steht die Sonne bereits etwas tiefer und scheint mir direkt entgegen. Zeit für ein Foto von mir auf meinem Rad. Auf dem Kolonnenweg ist nichts los, so dass ich ungestört meinen Fotoapparat auf dem kleinen Stativ ausrichten kann. Zehn Sekunden Selbstauslösezeit reichen so gerade für den Sprint zurück zum Rad und ein schnelles Aufsitzen. Beim ersten Schuss bin ich etwas zu klein auf dem Bild, beim zweiten Versuch knipst der Apparat nur meine Beine. Beim Start des dritten Versuches vernehme ich plötzlich lautes Motorengedröhne. Zu Tode erschrocken sehe ich ein Auto mit hohem Tempo den Weg entlang rasen, genau auf mein Fahrrad zu. Der Fahrer kann es hinter der Kurve nicht sehen, da ihm die Kornähren den Blick versperren. Schnell reiße ich meine Kamera vom Boden hoch und laufe ihm wild gestikulierend entgegen. In letzter Sekunde registriert mich der Fahrer. Ich reiße mein Rad zur Seite. Genervter Blick, weil ich ihn in seiner rasanten Fahrt zum Bremsen genötigt habe, tritt er nach kurzer Verzögerung das Gaspedal wieder durch und braust, eine Staubwolke hinter sich herziehend, in seinem tiefer gelegten Boliden asiatischer Herkunft davon. Weiter geht es durch Weizenfelder und Heuwiesen in Richtung Eckertal. An einigen Stellen kann ich Reifenspuren im Boden erkennen. Eine davon scheint relativ frisch zu sein, die übrigen sind vom Regen bereits leicht verwischt. Vermutlich ist einer der Fahrer nicht weit vor mir. Gegen 18:00 Uhr biege ich ins Eckertal ein. Zunächst geht es auf einem flowigen Trail durch den Wald, immer entlang des Flüsschens. An einigen Stellen finde ich den Track nicht und umfahre ihn auf dem parallel verlaufenden Wanderweg, der jetzt breiter wird. Typische Waldautobahn, wie sie kilometerlang im Harz und anderen deutschen Mittelgebirgen zu finden ist. Langsam aber stetig ansteigend windet sich der Weg entlang der Ecker in Richtung Talsperre, die Abendsonne blinzelt durch das Blätterdach. Einmal biege ich in vorauseilendem Gehorsam fälschlicherweise auf den steilen Kolonnenweg ab, aber zum Glück geht es auf dem sehr gut fahrbaren Wanderweg weiter. Nach einer Stunde und zwanzig Minuten betrete ich die Krone der Staumauer und schiebe mein Rad zum anderen Ufer der Eckertalsperre. Von der Staumauer habe ich einen fantastischen Blick auf den See mit dem Brocken im Hintergrund, der von der Abendsonne angestrahlt wird. Die Wegweiser zeigen an, dass es bis zum Gipfel nur noch 8 km sind. Heute ist der zweitlängste Tag des Jahres, und die Sonne scheint noch immer vom blauen Himmel. Der Berg ruft! Ich freue mich schon auf die Fortsetzung des so gut fahrbaren Wanderweges, da biegt der Track mal wieder unverhofft senkrecht zu den Höhenlinien ab. Wir sollen die Diretissima zum Gipfel nehmen, auf dem Kolonnenweg! Doch vorher heißt es, das Rad noch einmal durch eine schwer passierbare, da von gefällten Bäumen übersähte Schneise wuchten. Von einer kleinen Aussichtsplattform ca. 3 km unterhalb des Gipfels bietet sich ein grandioser Blick in das Harzvorland. Meine Tagesmeldung setze ich diesmal während der Auffahrt auf dem AB ab. Die Zuschauer daheim an den Bildschirmen sollen zur Tagesschau das Spektakel GST live miterleben dürfen. Der Kolonnenweg wird von Meter zu Meter steiler, und ich muss mich höllisch konzentrieren bei der entsprechend langsamen Fahrt nicht zu starke Ausgleichsbewegungen zu machen, sonst gerate ich mit dem Vorderreifen in die Löcher. Dann schüttelt es das Rad jedes Mal so richtig durch. Keuchend und schwitzend trete ich meine kleinste Übersetzung, 22: 32. Immer steiler stemmt sich mir der Weg wie eine Rampe entgegen. Nach einigen hundert Metern muss ich absteigen und schieben. Scheinbar haben sie damals den Wegverlauf so gewählt, dass die Patrouillenfahrzeuge die Steigung gerade noch so bewältigen konnten. Am Ende benötige ich noch eine geschlagene Stunde für die letzten Meter zum Gipfel, den Turm der Wetterstation wie eine rotweiß gestreifte Rakete immer im Blick. Oben angekommen, wird es schlagartig nebelig und kalt. Schnell noch das obligatorische Gipfelfoto mit dem Selbstauslöser gemacht, dann mache ich mich auf den Weg ins Tal. Jetzt kommt mich mein Verschlafen am Morgen teuer zu stehen. Strategisch wäre es jetzt absolut angesagt, dem Track folgend weiter in Richtung Braunlage zu fahren, und mir dort eine Unterkunft zu suchen. Aber ich kenne die Wegbeschaffenheit bis dorthin nicht und will angesichts der langsam einbrechenden Dämmerung – es ist immerhin 21:00 Uhr – nichts riskieren. Also beschließe ich, die Brockenstraße ins 10 km entfernte und gut 500 m tieferliegende Schierke abzufahren. Für eine Übernachtung in einer Schutzhütte am Wegesrand ist es mir definitiv zu kalt. Ich habe schließlich nur einen leichten Sommerschlafsack dabei. Die Straße ist in einem erbärmlichen Zustand, die Asphaltdecke großflächig aufgerissen. Baufahrzeuge am Rand deuten auf eine aktuelle Erneuerung der Fahrbahndecke hin. In der Tiefe wird es wieder wärmer, und schnell finde ich in Schierke ein Zimmer zum Übernachten. Die Wirtin gibt mir den Tipp, dass es beim Asiaten zwei Straßen weiter auch noch um kurz vor 22:00 Uhr etwas Warmes zu essen gibt. Ungeduscht eile ich dorthin und habe tatsächlich Glück. Ente mit Reis, dazu zwei Hefeweizen. Als ich zu meinem Quartier zurück kehre, ist es bereits dunkel.

Demnächst mehr...

Gute Naaacht :P !!!
Carsten
Carsten
 
Beiträge: 157
Registriert: Sa 30. Jan 2010, 19:32
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Karsten » Di 5. Jul 2011, 22:52

Gääääähhhn...mjammjam....
Danke Carsten! Gute Nacht. :)

Karsten
Karsten
 
Beiträge: 6379
Registriert: So 18. Mär 2007, 12:56
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Carsten » Mi 6. Jul 2011, 21:20

Nur noch zwei Tage :cry:

Tag 5, 21.06.2011
Start: 08:40 Uhr, Zimmer in Schierke, Harz
Mittagspause: 11:40 Uhr, Feldküche, irgendwo im Harz
Ende: 20:15 Uhr, Schutzhütte am Wegrand, Ecklingerrode, Nähe Duderstadt
Strecke: 100 km
„Haben Sie das große Schild unten am Ortsausgang nicht gesehen? Die Straße zum Brocken ist wegen Bauarbeiten gesperrt!“ Ich kann gegenüber dem Förster, der mir in seinem Geländewagen entgegenkommt und mich zum Anhalten nötigt, ja schlecht zugeben, dass ich das Schild – es hängt wirklich unübersehbar als Banderole über die gesamte Fahrbahn gespannt – natürlich gesehen und es ganz bewusst missachtet habe. Schließlich will ich so schnell wie möglich und ohne unnötige Anstrengung zurück zu der Stelle, wo ich den Track gestern Abend verlassen habe. Ich stelle mich also taktisch klug unwissend und frage höflich nach einer Alternativroute. „Da unten in 500 m rechts rein in den Königsbergweg, bis zum Ende durchfahren und dann rechts ab auf den Goetheweg. Alles gut fahrbar und nicht zu steil.“ Der Eckerlochstieg sei zu verblockt, mit dem Gepäck nicht zu machen, meint er auf mein Nachfragen. Und auf der Straße sei es für mich als Mountainbiker ja sowieso nicht so schön. Freundlich wünscht er mir eine gute Weiterfahrt. Mit seinem Tipp liegt er richtig. Um 09:40 Uhr bin ich wieder oben an der Kreuzung von Brockenstraße und Brockenbahn angekommen, gut 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Eine Stunde hat mich der Aufstieg gekostet. Viel schneller wäre es auf der Straße auch nicht gegangen. Ich hätte natürlich auch mogeln können und von Schierke aus über Elend in Richtung Braunlage auf der Straße zurück zum Track fahren, aber das wäre gegen den Kodex. Gegen ein paar kleine Abkürzungen ist sicher nichts zu sagen, aber das hier würde später garantiert auffallen, wenn Gunnar unsere Tracks zwecks Abgleich und Planung der GST 2012 übereinander legt. So rolle ich den Goetheweg anschließend wieder für ein paar Kilometer bergab. Zunächst sieht es so aus, als ob ich gestern Abend doch noch nach Braunlage hätte fahren können. Das liegt nämlich nur 1 km vom Track entfernt und vor allem fast auf derselben Höhe. Ich ärgere mich etwas, denn es geht tatsächlich in rasendem Tempo auf breiten gut ausgebauten Wanderwegen bergab. Doch dann – wie fast immer, wenn es gerade so gut läuft – schwenkt der Weg auf eine schwer fahrbare Alternativroute ab. Manchmal frage ich mich nach dem Sinn dieser Umwege, gerade wenn es sowieso nicht exakt auf der Grenze weiter geht. Trotz GPS ist es schwierig, den richtigen der drei parallel verlaufenden Pfade zu finden. Am Ende wäre es der mittlere gewesen, doch der ist von einem Harvester so dermaßen umgepflügt und mit gefällten Bäumen übersät, dass er schlicht unpassierbar ist. Später an der Werra wird Ralph mir erzählen, dass er hier genau wie ich zunächst den schmalen von Farn halb zugewachsenen Pfad parallel zum Ulmenweg eingeschlagen hat, dann aber auf den im weiteren Verlauf besser fahrbaren oberen Weg wechseln konnte. Ich dagegen quäle mich durch immer dichteren Farn, der mir zum Schluss bis an die Schultern reicht. Endlich ist die Engstelle gemeistert und es geht – mal wieder – auf den Kolonnenweg. Bergab stabilisieren die Kreiselkräfte das Rad, so dass ich mit leichten Gewichtsverlagerungen schön genau die Spur auf dem durchbetonierten Streifen halten kann. Es ist ein bisschen wie Balancieren auf einem Seil, das knapp über dem Boden gespannt ist. Wenn die Löcher mit Gras zugewachsen sind, ist es psychologisch einfacher die Spur zu halten, als wenn die Löcher völlig frei sind. Und im Harz sind sie oft frei. Vermutlich liegt es an den häufigen Niederschlägen, so dass sich das Wasser in den Löchern sammelt und die jungen Keimlinge ersaufen. Ich fantasiere vor mich hin. So langsam kriege ich einen richtigen Hass auf die Erbauer dieses Weges. Warum haben sie bloß diese dämlichen Lochbetonplatten verlegt. Vielleicht war es aus Gewichtsgründen. Oder die Flüchtenden sollten im Dunkeln in schneller Hatz umknicken und mit beidseitigen Bänderrissen jammerlich verenden. Wenn ich die Löcher mit meinen Reifen treffe, gibt das jedes Mal ein Geräusch wie Maschinengewehrfeuer. Wie der Nachhall der Schüsse, mit denen sie ihre dem Sozialismus abtrünnigen Genossen zur Strecke gebracht haben…Seit der Abfahrt vom Brocken regnet es leicht. Ich habe diesmal nicht die komplette Regenkombi angezogen sondern nur Jacke und Hose. Die Schuhe weichen so langsam ein. Es geht auf Mittag zu, und so langsam könnte ich eine kleine Stärkung vertragen. Zwar habe ich noch zwei belegte Brötchen vom Vortag in meiner Lenkertasche, aber etwas Warmes käme jetzt ganz gut, bei dem nasskalten Wetter. Da sehe ich beim Überqueren einer Straße plötzlich ein kleines hellrotes Fähnlein an einem Stab. Ein taktisches Zeichen. Daneben ein Schild mit der Aufschrift „Feldküche“. Ich zögere. Aber warum nicht, schließlich kann der oberste Feldherr unser Vorhaben in Form einer kostenlosen Mahlzeit ruhig unterstützen. Ich überlege schon, wie ich korrekterweise Meldung machen soll, da entpuppt sich die Feldküche als eine zivile Variante, die mit ihrem Namen auf eine ehemalige Verpflegungsstation des Militärs anspielt. In strömendem Regen steht ein verdeckloser Wagen, hinter dem eine Frau und ein Mann heiße Erbsensuppe mit Würstchen anbieten. Mitten im Wald. Ich bin der einzige Gast. Ein groteskes Bild. Zum Glück steht daneben eine kleine hölzerne Schutzhütte, so dass ich meine Mahlzeit im Trockenen einnehmen kann. Optimaler kann es bezüglich meines knappen Zeitplans gar nicht laufen. Schnell ist das Würstchen samt Suppe verspeist, und es hat sogar richtig gut geschmeckt. Weiter geht es nun in strömendem Regen steil bergab auf verschlammten Forstwegen. Die Bremshebel wandern immer näher in Richtung Lenker, der Bremsgummiverschleiß meiner Magura ist beängstigend. Purer Schmirgel. Meine Schuhe überziehen sich mit einer dicken braunen Schlammschicht. Inzwischen ist mir das egal. Hauptsache weiterkommen. Nach dem Überqueren einer weiteren Straße geht es über einen kleinen Bach, der sich durch einen lauschigen Talgrund schlängelt. Es folgt eine kurze steile Schiebepassage in unwegsamem Gelände und dann geht es nochmal über einen kleinen Berg bevor ich um kurz nach 14 Uhr die dampfende Hölle des Harzes bei Walkenried verlasse. Die Wolken lichten sich, die Sonne kommt zum Vorschein und es wird endlich wieder wärmer. Überhaupt war für den späten Nachmittag und den Abend gutes Wetter vorhergesagt. Wieder sehe ich diese Reifenspur vor mir. Sie sieht jetzt taufrisch aus. Ich schalte mein Handy ein, um die Meldung abzusetzen, da signalisiert mir ein Klingelton die SMS von Jens. Mein ehemaliger Mitradler Martin ist zurück auf die GST gekehrt und fährt nur wenige Kilometer vor mir. Er lässt mich über das Forum der Grenzsteintrophy grüßen. Später erfahre ich, dass er ebenfalls durch einen Freund über den Rennverlauf informiert wird und von meiner Verfolgung weiß. Das motiviert mich natürlich, und so strample ich zügig über eine längere Passage flüssig zu fahrender Feldwege. Um 15:20 Uhr, ein paar Kilometer südlich von Bad Sachsa passiere ich eine kleine Skulptur, die aus zwei eisernen in schwarz rot gold gestrichenen Ringen einen Globus symbolisiert, mit der Aufschrift „Mitte“. Das könnte passen. Hier war vermutlich die Mitte der Grenze von Nord nach Süd. Die Landschaft wird jetzt zunehmend hügeliger. Wie aufgefalten liegen vor mir unzählige tiefe Einschnitte quer zu meinem Weg. Es geht steil bergab und ebenso steil bergauf. Es ist, als fahre ich auf einer Kugel von oben herunter, von Meter zu Meter wird es steiler. Manchmal kann ich von der Kuppe gar nicht die steilste Stelle einsehen, da sie hinter dem Horizont liegt. Die Traktion meiner Reifen stößt an Ihre Grenzen. Kurz vor dem Erreichen der Talsohle löse ich die Bremsen und rolle in den Gegenhang, trete dann noch solange es geht und muss schließlich absteigen und schieben. So kämpfe ich mich mühsam Sinuswelle für Sinuswelle weiter. Es nimmt kein Ende. Nach einer weiteren Schussfahrt endet der Kolonnenweg plötzlich unmittelbar in einem undurchsichtigen Dickicht. Dahinter Wald. Rechts daneben ein Jägerhochsitz. Inzwischen weiß ich, dass der Track durch die Interpolation nicht immer den exakten Verlauf anzeigt und dass manchmal ein wenig Fantasie gefragt ist, den Weg zu finden. Rechts am Gebüsch vorbei scheint mir diesmal die vielversprechendste Variante. Aber dort enden die Spuren im Gras in einer von Baumstümpfen verblockten Bergwiese. Dahinter ein undurchdringlicher Waldhang. Ein Blick aufs Display bestätigt mir, dass ich mich senkrecht vom Track entferne. Also links am Gebüsch vorbei. Auch nichts. Ich scrolle ein bisschen, um festzustellen, dass mich eine Umfahrung eine Menge Zeit kosten würde. Also beschließe ich, dem Track konsequent durch das Gestrüpp zu folgen. Nachdem ich mir zum Schutz vor Dornen und Insekten meine Regenhose angezogen habe, wuchte ich meine Fuhre durch die wegknickenden Zweige. Und tatsächlich, dahinter verbirgt sich der Kolonnenweg. Jetzt von Moos überzogen und von Bäumen überwachsen, die mit ihren Ästen einen flachen Tunnel bilden. Man könnte glauben auf ein Relikt des Ersten Weltkrieges gestoßen zu sein. Unglaublich, was die Vegetation sich in 22 Jahren zurückgeholt hat. Zwischen den Betonplatten deuten Fußspuren im Morast an, dass sich zumindest ein Fahrer vor mir hier hoch gequält hat. Schritt für Schritt kämpfe ich mich keuchend den Berg hoch. Wenn das so weitergeht, schaffe ich mein Tagespensum nicht. Oben angekommen lege ich eine kurze Verschnaufpause ein. Als ich mir die Regenhose wieder ausziehen will, sehe ich, dass mehrere dunkle Insekten, die ich zunächst für Fliegen halte, an meinen Beinen hochkrabbeln. Aber nein, das sind ja Wildbienen! Die ersten kreisen bereits um meinen Kopf. Jetzt bloß keine Panik! Ruhig schiebe ich mein Rad weiter und puste vorsichtige die Luft durch die Lippen, um sie aus meinem Gesicht zu verscheuchen. Nach ein paar hundert Metern lassen sie von mir ab. Jetzt reicht’s mir. Ich schwinge mich in den Sattel und verlasse den Track auf einem gut fahrbaren Feldweg in Richtung Landstraße. Pfeif auf den Kodex. Heute ist echt Kolonnenwegtag. So langsam frage ich mich, wozu es hier immer so genau auf der Grenze entlang gehen muss, während wir z.B. durch den Drömling bei Wolfsburg kilometerlang auf einem Radweg an der Bundestraße entlang fahren sollten. So ganz schlüssig ist der Track für meinen Geschmack noch nicht. Nach ein paar Schokoriegeln und ca. 2 Kilometer parallel auf der Landstraße habe ich mich wieder beruhigt und biege zurück auf den Track. Und wieder wurde mein Fluchen erhört, wie schon im Wendland nach den Sandwegen, denn jetzt sind die Bodenwellen überwunden und es geht deutlich moderater weiter, teils Kolonnenweg, teils Wirtschaftsweg. Unter einem Baum lege ich auf einer Holzbank nochmal eine kurze Pause ein, und esse das letzte Brötchen vom Vortag. Das Wetter ist jetzt richtig gut, blauer Himmel, warme Luft, kaum noch Wind. Heute Nacht will ich mir endlich mal eine Übernachtung im Freien gönnen, so wie ich mir das ursprünglich vorgestellt hatte. Und tatsächlich, kurz hinter Ecklingerrode, Höhe Duderstadt, finde ich eine kleine relativ neue Schutzhütte aus Holz direkt am Wegrand. Bänke und Tisch inklusive. Schöner Ausblick auf die von der Abendsonne beleuchteten Berge. Besser geht es nicht. Kurz vorher konnte ich im Ort noch schnell meine Trinkflasche in der Gemeindepfarrei auffüllen, so dass ich jetzt autark bin. Die Ziegen und Schafe neben meiner Hütte lassen sich durch meine Köchelei nicht beirren. Sie werden mich heute Nacht bewachen und Alarm schlagen, falls sich jemand meinem Nachtquartier nähern sollte. Aber es bleibt alles ruhig und so lausche ich ihren Kaugeräuschen bis ich langsam in das Reich der Trolle hinübergleite.

Carsten
Carsten
 
Beiträge: 157
Registriert: Sa 30. Jan 2010, 19:32
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Josh » Mi 6. Jul 2011, 23:10

jetzt kann ich auch in ruhe schlafen...gute nacht
Josh
 
Beiträge: 310
Registriert: Mi 21. Apr 2010, 14:26
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Karsten » Mi 6. Jul 2011, 23:15

Josh hat geschrieben:jetzt kann ich auch in ruhe schlafen...gute nacht


Gute Na-hacht! Wir sehen uns bei den Trollen. :)

Karsten
Karsten
 
Beiträge: 6379
Registriert: So 18. Mär 2007, 12:56
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Jensemann » Mi 6. Jul 2011, 23:33

Gute Nacht,John Boy Carsten und danke für die schöne Geschichte :)

Jens
Benutzeravatar
Jensemann
FullyFee
 
Beiträge: 966
Registriert: Do 3. Dez 2009, 07:43
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Carsten » Do 7. Jul 2011, 21:13

Jetzt heißt es Abschied nehmen :cry: :cry: :cry: ...

Tag 6, 22.06.2011
Start: 06:00 Uhr, Schutzhütte am Wegrand, Ecklingerrode, Nähe Duderstadt
Mittagspause: 10:00 Uhr, Supermarkt in Arenshausen, Eichsfeld, 45 km
Ende: 17:00 Uhr, Waldweg hinter Asbach-Sickenberg, Nähe Bad Soden-Allendorf, Werra
Strecke: 70 km
So langsam muss ich mich sputen. Mir bleiben nur noch vier Tage bis zum Ziel in Eichigt, und laut GPS liegen bis dahin noch 580 km vor mir. Das sind pro Tag durchschnittlich 145 km. Im Flachland, bevor es in den Harz ging, passte das noch relativ gut, aber gestern bin ich „nur“ 100 km weit gekommen. Dabei trete ich pro Tag gut und gerne 10 Stunden in die Pedale. Mit Pausen bin ich rund 12 bis 13 Stunden unterwegs. Heute muss ich also richtig ranklotzen. Zum Glück hilft mir die Natur diesmal, meine Aufstehzeit dem allgemeinen Trend anzupassen. Wie schon auf dem Campingplatz an der Elbe werde ich um kurz nach 04:00 Uhr von den Vögeln geweckt. Die Ziegen nebenan haben schon mit dem Frühstück begonnen. Gestern Abend habe ich alle Sachen bereits geordnet und verpackt, so dass ich ohne größeren Zeitverlust mein kleines Müslifrühstück einnehmen und wieder losfahren kann. Es ist noch ein wenig frisch, so dass ich mir die Regenjacke überziehe. Da die Wasserflasche leer ist, fahre ich den kurzen Weg zurück ins Dorf, und fülle sie an dem außen am Pfarrhaus angebrachten Hahn wieder auf. Die Menschen im Dorf schlafen noch. Punkt 06:00 Uhr bin ich wieder an meiner Hütte und bewege mich auf dem Track in Richtung Ziel. So wie die Strecke gestern aufhörte, geht sie heute Morgen weiter. Der Track führt mich am Vormittag zunächst in westlicher Richtung am Rand des Eichsfelds entlang, einer Gegend, die sich zwischen Harz und Werra erstreckt. Es geht viel auf und ab, mal auf dem Kolonnenweg, dann wieder auf kleinen asphaltierten Wirtschaftswegen. Ab und zu geht es auch wieder durch die steilen Bodensenken. Einmal wird es dabei bergab so steil, dass mein Hinterrad blockiert. Längst bin ich mit meinem Hinterteil hinter den Sattel gerutscht, die arme lang nach vorne gestreckt, um soviel Gewicht wie möglich auf die Hinterachse zu bringen. Es nützt nichts. Hilflos muss ich zusehen, wie ich samt Rad Tempo aufnehme und auf den Lochplatten in die Tiefe rausche. Für ein kontrolliertes Absteigen ist es bereits zu spät. Mein Adrenalinspiegel steigt rapide. Jetzt geht es auch noch um die Kurve! Durch geschickte Gewichtsverlagerung gelingt mir der Richtungswechsel. Mein Rad steuere ich wie einen wilden Gaul durch Schenkeldruck gegen die Sattelflanken. Das Manöver gelingt. Mit driftendem Hinterrad meistere ich die brisante Situation. Ich bin heilfroh, als ich im Auslauf der Gefällestrecke endlich die Bremsen lösen kann und am Gegenhang ausrolle. Das ist gerade nochmal gut gegangen. Einige der Fahrer haben in solchen Situationen weniger Glück gehabt und sind gestürzt, wie ich später aus den Telefonberichten erfahre. Gegen halb zehn überquere ich die A38, die hier durch einen längeren Tunnel führt. Am Ausgang läuft der Weg entlang einer Anhöhe parallel zur Autobahn, so dass ich die Lkw-Fahrer in ihren Kabinen sehen kann. Trotz der schwierigen Topographie komme ich einigermaßen gut voran. Kurz hinter der Autobahnüberquerung liegt der Ort Kirchgandern, um zehn Uhr gerade richtig für eine Frühstückspause und zur Auffrischung meiner Vorräte. Leider hat der letzte von zwei Bäckern vor einem Jahr aufgeben müssen, wie mir vier ältere Frauen lebhaft gestikulierend und durcheinander redend zu erklären versuchen. „Aber dort drüben, in Ahrenshausen, da müssen Sie über die Brücke fahren und dann rechts und die nächste wieder links, nein, also die zweite, da steht ein Schild, das sehen Sie dann schon,…“ Ich bedanke mich schnell und fahre zurück auf den Track, der ohnehin an Ahrenshausen vorbeiführt. Keine zehn Minuten später stehe ich in einem kleinen Supermarkt, der all die Dinge bereit hält, die jetzt für mich wichtig sind. Um Zeit zu sparen, esse ich mein zweites Frühstück direkt auf dem Mäuerchen neben dem Aufgang. Ein Alkoholiker zwingt mir ein Gespräch auf. Ich überlege kurz, ob ich woanders hinfahren soll, aber er ist eigentlich ganz nett und erzählt mir von seiner Vergangenheit. Inhaftierung in der DDR, später mal im Westen, mal im Osten gewohnt. Keine Arbeit, jetzt wohnt er hier mit seinem Bruder zusammen. Er deutet auf die umliegenden Häuser. „Alles Wendehälse!“ Niemand wurde zur Rechenschaft gezogen. Er ist verbittert. Warum ich diese Tour entlang der Grenze mache, will er wissen. Ob ich Geld dafür bekomme, oder wenigstens eine Medaille. Er wünscht mir Glück, als ich mich von ihm verabschiede. Mit aufgefüllten Vorräten und voller Wasserflasche mache ich mich wieder auf den beschwerlichen Weg. Nach einem kurzen Stück Landstraße geht es wieder auf den Kolonnenweg. Die Sonne steht bereits hoch am milchig blauen Himmel und es wird langsam schwül-warm. Ich fühle mich leicht unausgeschlafen. Das frühe Aufstehen bekommt mir nicht, jedenfalls nicht bei dieser Schinderei. Manche Hügel sind fahrbar, manchmal muss ich schieben, teilweise leider auch bergab. Ging es bis zur Pause noch gut voran, so werde ich jetzt von Kilometer zu Kilometer immer langsamer. Sobald ich stehen bleibe, werde ich von Schnaken attackiert. Nach einer kurzen Gefällestrecke, die ich im Sattel zurücklegen kann, fühlt sich mein Hinterrad plötzlich schwammig an. Beim Absteigen am Gegenhang bestätigt sich mein Verdacht. Platten! Und das in der prallen Mittagssonne. Der Schweiß brennt mir in den Augen. Ich legen das Rad auf die Seite und würge das Hinterrad aus den Ausfallenden. So spare ich mir das Verstellen meiner GPS-Konstruktion. Die Kettenschmiere an meinen Händen ist mir egal. Apathisch wechsle ich den Schlauch und erdulde das Stechen der Schnaken. Ich kann mich ohnehin nicht gegen sie wehren. Erstaunlich wie der Geist sich den veränderten Randbedingungen anpasst. Mit prall gefülltem Reifen schiebe ich den Rest des Steilhanges hinauf. Wenn wenigstens mal wieder ein schön zu fahrender Feldweg käme. Aber der Track kennt keine Gnade. Um 13:30 Uhr stehe ich auf einem Plateau, knapp 250 m oberhalb der Werra. Jetzt müsste der schwierigste Teil für heute vermutlich geschafft sein, denke ich, und freue mich schon auf den gut fahrbaren Werratalradweg. Aber vorher biegt der Kolonnenweg um neunzig Grad nach links ab und verläuft senkrecht zu den eng nebeneinanderliegenden Höhenlinien in die Tiefe, von Dornengestrüpp überwuchert. Ich habe ehrlich gesagt keine Lust mehr auf diese Tortur. Außerdem habe ich gerademal 56 km für heute geschafft. Also beschließe ich eine alternative Route auf einem Wanderweg durch den Wald zu nehmen. Der ist aber auch nicht viel besser. Auf steilen Sandwegen, teilweise von liegengebliebenen Ästen der Waldarbeiter übersät, rutsche ich mühsam talwärts. Nach zehn Minuten ist es geschafft. Ich bin unten an der Werra angekommen und rolle auf dem kleinen Asphaltsträßchen neben dem Flussbett aus. Meine Kehle ist trocken, ich bin total verschwitzt. Da kommt mir die Gastronomie am Wegrand gerade recht. Der Wirt preist mir seinen selbstgepressten Rhabarbersaft an. Ich bestelle gleich einen halben Liter. Ah, wie das schmeckt. „Na, noch einen?“, scheint der Wirt meine Situation gleich erkannt zu haben. Ich nicke erschöpft. Auch der zweite halbe ist in wenigen Sekunden hinunter gespült. Perlen vor die Säue. Ich erzähle ihm von der Grenzsteintrophy. Auch er ist, wie viele, von unserer Tour begeistert und holt ein altes ausgeblichenes Foto hinter Glas aus dem Schankraum, auf dem die Grenzschneise wie eine klaffende Wunde den Wald oberhalb Lindewerra zerteilt. „So hat das hier damals ausgesehen. Schlimm war das!“. In seinem Sanitärraum wasche ich mir noch den Schweiß vom Gesicht, und nach einem kurzen Studium der Karte starte ich einen letzten verzweifelten Anlauf, um das Blatt noch einmal zu wenden. Es ist 14:40 Uhr, als ich mich beim Kilometerstand von 60 km wieder auf den Weg mache. Seit fast neun Stunden bin ich schon unterwegs, und noch nicht einmal die Hälfte meiner angepeilten Tagesstrecke ist geschafft. Außerdem weiß ich jetzt, dass der Track natürlich nicht entlang des schönen Werratalradweges weitergeht, sondern jede Erhebung seitlich der Werra parat hält. Dunkle Regenwolken ziehen inzwischen ins Tal. Es ist unerträglich schwül. In Altenburschla ist ein Campingplatz. Den könnte ich mit viel Glück heute noch erreichen. Aber das wären dann auch nur 100 km für heute. Aber ich will nicht gleich aufgeben. Auf dem Weg zur nächsten Anhöhe sehe ich plötzlich einen Mountainbiker, der mir entgegenkommt. Schon von weitem kann ich an seinem Bündel unter dem Lenker erkennen, dass es sich um einen GST-Teilnehmer handeln muss. Wer sonst bindet in diesem Land sein Zelt allen Ernstes unter den Lenker? Es ist Ralph. Seine Freundin Antje musste schon am zweiten Tag wegen Schmerzen in der Schulter aufgeben. Die Folge eines Sturzes bereits vor dem Start der GST. Er fragt mich, ob ich auch vorhin am Grenzdenkmal bei Sickenberg vorbeigekommen bin. Große Verunsicherung bei ihm, als ich ihm meinen Track auf dem GPS zeige. Sein Gerät kann immer nur einen Teil des Gesamttracks in den Speicher laden. Irgendwie scheint er beim Übergang von einem Teilstück zum nächsten die Orientierung verloren zu haben. Auf meinem Track liegt das Grenzmuseum jedenfalls definitiv noch vor mir. Wir verabschieden uns wieder, da er noch einkaufen will. Vor ihm sollen noch weitere Fahrer auf der Strecke sein. Als ich auf den Feldweg zum Grenzmuseum steil in den Hang einbiege, grollt in der Ferne bereits der erste Donner. Ich beeile mich so gut es geht. Lasse das Museum links liegen und fahre weiter durch ein paar kleine Dörfer. Schon regnet es. Ich ziehe mir alle Regensachen über, auch wenn ich darunter höllisch schwitze. Als die ersten Blitze zucken, halte ich am Waldrand an und stelle mich unter dem dichten Blätterdach der Buchen unter. Weiterfahren wird mir doch zu mulmig. Es ist 16:00 Uhr. Nach einer Stunde zieht das Gewitter langsam weiter. Ich überlege kurz. Wenn ich weiterfahre, hole ich das Gewitter wieder ein. Es hängt noch in den Berghängen vor mir, genau in Richtung meines Weges. Mein Tacho zeigt 70 km an. Ich bin erschöpft. Irgendwie ist mir die Lust an der Tour für heute und auch insgesamt vergangen. Außerdem habe ich Hunger. Unten im Tal liegt das schöne Bad Soden-Allendorf. Dort werde ich mir ein festes Dach über dem Kopf suchen und mich von den Strapazen erholen. Ich weiß instinktiv, dass das das Ende der Grenzsteintrophy für mich bedeutet. Und ich weiß, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Ohne zu treten rolle ich das kleine Bergsträßchen zurück ins Tal. Schon von weitem kann ich die schmucken Fachwerkhäuser sehen. Auf dem Weg zur Touristeninformation komme ich an einem Gradierwerk vorbei. Dort wird Sole durch Meterhohe Reisigbündel geleitet und durch Verdunstung aufkonzentriert. Die Luft in dem umgebenden Rundgang ist stark salzhaltig und wird von den Kurgästen inhaliert, die dort flanieren um ihre Beschwerden zu lindern. Ein liebevoll restauriertes Radlerhotel hat noch ein schmuckes Zimmer für mich. Frisch gestrichener Dielenboden, nach Edelholz duftende Möbelstücke. Und das zu einem unglaublich niedrigen Preis. An der Autobahn in Helmstedt war es deutlich teurer. Ich dusche mir den Scheiß vom Körper und wasche alle Sachen durch. Eine leckere Pizza und die üblichen zwei Hefeweizen lassen die Strapazen der vergangenen Woche aus meinem Körper entweichen. Morgen früh werde ich ausschlafen und nach einem ausgiebigen und in Ruhe genossenen Frühstück auf den Werratalradweg abbiegen und mich einreihen in das Heer der Elektrofahrräder und Dreifachpacktaschenreiseradler. Wie schön kann doch eine Fahrradtour sein!

Vielleicht war mein Entschluss zu voreilig, am Waldrand kurz hinter Asbach-Sickenberg aufzugeben. Aber die Aussicht, mich in ähnlicher Landschaft noch weitere drei Tage auf dem Kolonnenweg weiter zu quälen, hat mir am Ende die Motivation genommen. Vielleicht wäre ich bis auf 100 km an das Dreiländereck heran gekommen. Aber knapp gescheitert ist auch nicht besser, als vorher aufzugeben. Klar, ich hätte noch ein oder zwei Tage Urlaub dranhängen können, aber das war es mir nicht wert. Ich habe bis hierher eine super Tour gehabt, mit allen Höhen und Tiefen. Sechs Tage Radmarathon am Stück haben mir viel abverlangt. Die Stille und die Einsamkeit auf einem grotesken Weg entlang einer nicht mehr existierenden Grenze und eine unberührte Natur haben einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Eine wahrhaftige Grenzerfahrung, wie es einer der Teilnehmer so treffend in seinem Telefonbericht ausgedrückt hat. Der Weg war das Ziel.

Carsten
Carsten
 
Beiträge: 157
Registriert: Sa 30. Jan 2010, 19:32
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon David » Do 7. Jul 2011, 22:39

Ganz toll Carsten, ich hab deine Berichte sehr genossen. Dein entschluss aufzuhören kann jeder nachvollziehen, nach den ganzen strapatzen hätten die wenigsten noch lust gehabt weiter zu machen, vor allem so als einzelkämpfer. Bin sehr beindruckt von alles was du so erlebt hast. Schade ist nur das wir keine weitere berichte über den GST haben werden, aber da du jetzt als offizieler berichtserstatter gewählt wurdest konnen wir uns auf viele zukunftige stories freuen :lol:

Schone Grüße

David
In every part of the globe it is the same! Hatred, fear and unreasoning hostility have possessed men's hearts! But the Silver Surfer will have no part of it!
Benutzeravatar
David
 
Beiträge: 752
Registriert: Mo 18. Dez 2006, 10:22
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Josh » Fr 8. Jul 2011, 12:01

ich schließe mich da voll und ganz david an!
in der hoffnung auf weitere tolle touren und ihre berichte davon.
wirklich schöne berichte...
Josh
 
Beiträge: 310
Registriert: Mi 21. Apr 2010, 14:26
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon jge » Sa 9. Jul 2011, 18:01

auch von meiner freundin nen dickes :top:
Benutzeravatar
jge
Beamter
 
Beiträge: 582
Registriert: Mi 11. Jun 2008, 22:40
Wohnort: KI

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Carsten » Do 14. Jul 2011, 19:49

Bevor Jens bald mit seinen Alpenbildern alle Aufmerksamkeit verdient, hier als kleiner Nachschlag noch der Link zu meinen Bildern von der GST 2011:

https://picasaweb.google.com/Leezenritt ... rophy2011#

Viel Spaß beim gucken!

Carsten
Carsten
 
Beiträge: 157
Registriert: Sa 30. Jan 2010, 19:32
Wohnort: Kiel

Re: Grenzsteintrophy

Beitragvon Felix » Do 14. Jul 2011, 23:12

Klasse bilder!

Ich erinnere mich an ein MTB Marathon in Schierke... da ging es auf so einem Betonweg auf den Wurmberg rauf... das war so steil, das ging mit Wettkampgmaterial schon fast nicht. Wie das mit Gepäck ist will ich lieber gar nicht erst wissen :scream:

Felix
Benutzeravatar
Felix
Quälix
 
Beiträge: 3105
Registriert: Di 31. Okt 2006, 23:20
Wohnort: Kiel

VorherigeNächste

Zurück zu Touren



Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 37 Gäste

cron